LA CHASSE-MARÉE / AR MEN
Musique bretonne, Histoire des sonneurs de tradition

Im fm 4/97 wurde ein handliches Nachschlagewerk zur bretonischen Musik fast gleichen Titels vorgestellt, das mit etwa DM 23,- auch erschwinglich ist. Dieses hier ist quasi der große Bruder, mit einem zunächst schockierenden Preis (gut DM 200,-), der aber angesichts des Umfangs und der Unzahl an Abbildungen gerechtfertigt ist. Ich kenne kein vergleichbares Werk zur traditionellen Musik. Es handelt sich weder um ein instrumentenkundlich ausstaffiertes Geschichtsbuch, noch um eine musikwissenschaftliche Abhandlung, sondern um ein populäres, aber kompetentes Lesebuch aus der Sicht von heute, geschrieben von zahllosen Mitarbeitern nach teilweise zwanzigjährigen Recherchen! Insofern kann man kein homogenes Werk erwarten. Der Wert liegt in der zusammenfassenden Darstellung und der opulenten Illustration. Mitherausgeber ist die Zeitschrift Ar Men, die qualitätvollste, aber auch teuerste zur bretonischen Kultur. Dort wie hier besticht die Qualität der Abbildungen. Es ist zwar viel Material aus Archiven, Bibliotheken etc. eingeflossen, vieles ist aber nicht gänzlich neu. Teils erschien es bereits bei Ar Men selbst oder anderswo, teils beruht es auf bestehenden Untersuchungen. Beiläufig erfährt man, daß es sich erst um Band 1 handelt ("Les Sonneurs"), weitere Bände, u. a. über die hier fehlende Vokalmusik, sollen folgen.

Das Buch gliedert sich in 8 Hauptkapitel vom Mittelalter bis heute, die Unterteilung erfolgt teils chronologisch, teils sozialgeschichtlich, meist aber nach Instrumenten. Der Schwerpunkt liegt zwischen 1870 und 1940 (Teile 3 bis 7). Besondere Aspekte werden "encadré" abgehandelt, in abgesetzten Rahmen und übersichtlichem Layout.

Teil 1 (Mittelalter bis Revolution) ist praktisch nur ein Vorkapitel. Hier halte ich den Zusammenhang zur heutigen Folkmusik für fragwürdig, weil er in erster Linie durch die keltische Brille betrachtet erscheint. Die Unterkapitel zu verschiedenen Aspekten der Dorfmusik und den beiden Hauptinstrumenten, Biniou und Bombarde, suggerieren eine Kontinuität der Musik über die Kontinuität der Instrumente. Teil 1 schließt mit einer Übersicht wichtiger Tanzfeste zwischen 1790 und 1820 (incl. Karte). Er ist der Zeit entsprechend mit kunstgeschichtlichen Fundstücken illustriert, meist ohne direkten Bezug zum Text.

Teil 2 (1820-70) beschäftigt sich mit der Geschichte der wichtigsten Instrumente (Biniou/Bombarde, Veuze, Geige, Drehleier, Klarinette), soweit nötig regional abgehandelt. Auch hier zahlreiche Einschübe, etwa zur Herkunft des Namens Veuze, eine sehr allgemeine Erläuterung zur Drehleier und ein Abschnitt zu wichtigen Musikern dieser Zeit. Das Unterkapitel "invention du Folk-lore" versucht, die Entwicklung an den europäischen Zeitgeist anzulehnen, etwa im Vergleich mit den Liedersammlungen eines W. Scott oder C. von Brentano. Die bretonischen Namen sagen uns allerdings nicht viel, außer vielleicht Villemarqué, der 1839 in Paris die "Barzaz-Breiz" veröffentlichte, eine Liedersammlung, die noch heute eine wichtige Grundlage der bretonischen Musik darstellt. Dieser Teil verbleibt sehr im Deskriptiven.

Die Teile 3 bis 7 (1870-1940) sind der eigentliche Kern des Werks, logischerweise beginnend mit Ausführungen zu den Tänzen, nicht als Tanzbuch, sondern in einer Beschreibung ihrer Entstehung und Veränderung, mit einer sinnvollen Karte über die regionale Verteilung. Als Goldenes Zeitalter für die Couples Biniou-Bombarde gilt die Zeit bis 1930 (mit Verbreitungskarte). In ähnlicher Form wird die Veuze vorgestellt. Auch hier mit Einschüben zu den wichtigsten frühen Musikern dieses Instruments. Es folgen Geige, Drehleier, Klarinette und schlußendlich das Akkordeon, dessen "invasion diatonique" besonders lesenswert ist. Als Gründe für die schlagartige Überschwemmung um 1900 mit diatonischen Akkordeons werden deren relativ leichte Handhabung (wenig Stimmprobleme), v. a. aber der Preis angesehen. Er fiel von über 50 auf 8 Francs, was etwa einem Arbeiterwochenlohn entsprach. Geigen und Klarinetten kosteten hingegen immer noch mehr als einen Monatslohn. Von solchen Kapiteln hätte ich mir mehr gewünscht.

Teil 4 beschäftigt sich mit den Auftrittsmöglichkeiten der Musiker, den kirchlichen Pardons, jahreszeitlich bedingten Festen (auf welche viele heutige Festivals zurückgehen), der Rolle der Militärmusik oder der Seefahrt, wobei uns das "Schifferklavier" geläufig sein mag, ein Biniou-Bombarde-Duo in der Takelage jedoch erheitert. Den größeren Anteil hat die Schilderung der Einbindung der traditionellen Musik in die ländliche Gesellschaft.

Teil 5 ist den Musikern gewidmet, ihren Familien, Lehrern, ihrem Berufsfeld, den Gagen oder dem Verhältnis zur Kirche. Ein Kapitel beschäftigt sich mit den "couple de sonneurs", welche Instrumente eignen sich für ein Duo und wie wurden die "territoirs" abgesteckt? Die Konkurrenz muß hart gewesen sein. Manche blieben - wie heute - lebenslänglich zusammen. Nach dem 1. Weltkrieg wurde auch die Bretagne von der Mode neuer Instrumente heimgesucht, nicht zuletzt ausgelöst durch den Jazz, neue Besetzungen tauchten auf, Akkordeon-Saxophon oder gar Trompete-Biniou. Die bisherigen Strukturen weichten auf, nur gelegentlich wurden neue Instrumente in die traditionelle Musik integriert wie das chromatische Akkordeon.

Teil 6 greift erneut Dudelsäcke und Bombarden heraus, ist einer der informativsten und hat mit die interessantesten Abbildungen, etwa Biniou-Blättchen oder martialische Bombardemundstücke aus dem 19. Jh., mit Angaben zur Wicklung. Hier findet man Anmerkungen zur Bauart der Instrumente, ihren Varianten, den Bohrungen etc. Natürlich fehlen die Instrumentenbauer nicht. Besonders ausführlich sind die Angaben zur Veuze, über die bislang wenig Zusammenhängendes zu lesen war. Der Teil schließt mit einer Aufstellung historischer Instrumente in öffentlichen Sammlungen Frankreichs (mit archivalischen Angaben).

Teil 7 verdeutlicht, weshalb die Zeit zwischen 1870 und 1940 in diesem Buch ein solches Gewicht hat. Die Etablierung der traditionellen Musik ("folklorisation") bedeutete einerseits die Popularisierung als romantische Folklore gegen Ende des 19. Jh., andererseits die Zeit des Sammelns und Aufzeichnens. Ein "Encadrement" informiert über die ersten Aufnahmen auf Wachswalzen, mit einer etwas kurzen Discographie derzeit verfügbarer Aufnahmen vor 1940 auf CD. Aufschlußreich sind die Kapitel über die Wettbewerbe ("Concours"), deren Geschichte kommerzielle und touristische Aspekte mit einschließt, die schließlich aufgrund inkompetenter Bewerter dazu führten, daß die authentische Musik auf der Strecke blieb.

Die weitere Entwicklung seit dem Ende des 19. Jh. ist nicht zu trennen von zahlreichen kulturellen Vereinigungen, in denen traditionelle Musik eine wichtige Rolle im Rahmen politischer, gelegentlich auch militanter Autonomiebestrebungen spielte. Die erste war die URB ("Union Régionaliste Bretonne", 1898). Bei der Emsav handelte es sich um eine pankeltische Abspaltung, der letztlich auch die Einführung der schottischen Highland Pipes (Biniou braz) in der Bretagne mitzuverdanken ist. Weitere Organisationen werden unter der Rubrik Cercles celtiques abgehandelt. Der Abstecher zur Bedeutung der nach Paris emigrierten Musiker ist lohnend, weil viele Neuerungen von außen erfolgten. Es betrifft dies auch das Biniou braz, welches in Paris in die erste bretonische Musikervereinigung im engeren Sinne integriert war, der Kenvreuzier ar Viniouerien (KAV, 1932). Erst ein paar Jahre später gründete sich eine entsprechende Organisation in der Bretagne selbst, die Bodadeg ar Soneriou (BAS). Im Anschluß daran endet dieser zeitliche Abschnitt etwas abrupt.

So erscheint der letzte Teil über die Nachkriegszeit als der Vollständigkeit halber angefügt. Hier hätte man mehr Insiderinformationen erwartet. Für das heutige Verständnis wichtige Passagen bleiben ohne ausreichende Darstellung, z. B. die Rolle der Folkclubs Anfang der 70er Jahre und die Geschichte der Festivals (Lorient, Quimper). Auch die Gallionsfigur jener Zeit, Stivell, gerät zu einer Randerscheinung, andere werden gar nicht erst erwähnt. Man widmet sich zwar nicht zu Unrecht weitgehend den Musikern der strengeren, traditionellen Richtung, jedoch wird das Folkrevival nicht ausreichend dargestellt. Einer sehr verkürzten Discographie zu den "Sonneurs traditionnels" steht das gänzliche Fehlen einer solchen zur modernen Folkmusik gegenüber.

Nun mag sich von außen das Interesse anders darstellen als für die Herausgeber, aber für die Leser des fm ist die Verknüpfung des zeitgenössischen Folks mit seinen Roots sicher der näherliegende Aspekt. Die "Revivalistes" der 70er Jahre werden unter dem Aspekt abgehandelt, wie sie die Dinge wahrnehmen ("perception"), weniger, daß sie ein Teil von ihnen sind. Man gewinnt den Eindruck, als scheue man sich vor einer Bewertung. Die Darstellung der Wiederentdeckung, Dokumentation und Wiederbelebung der traditionellen Musik zwischen 1950-70 wäre in Ordnung, würde das Buch 1970 enden. Dann hätte man aber die beiden letzten Kapitel bis 1990 beiseite lassen sollen, da sie auch nicht in Ansätzen ein Bild der letzten 20-25 Jahre des bretonischen Folkrevivals vermitteln, darüber täuscht auch eine Doppelseitenphoto von Gwerz nicht hinweg. Gitarren und andere Folkinstrumente scheint es in der Bretagne ebensowenig zu geben wie Folkbands.
Bliebe noch der Anhang. Ein Index von 1.800 Namen der wichtigsten Musiker zwischen 1870 und 1940, unübersichtlich aufgeschlüsselt nach Instrument und Region (ein allgemeiner Namensindex fehlt); eine nicht sehr üppige Discographie zur traditionellen Richtung seit 1945, ein Quellenverzeichnis, ein Ortsindex nach Provinzen.
Fazit: Ein opulentes Lesebuch mit Unmengen von Informationen, als Nachschlagewerk nur bedingt geeignet, exquisites Bildmaterial und in seiner Zusammenschau einzigartig. Zum Verständnis der bretonischen Musik von absolutem Wert, kein Handbuch zur aktuellen Szene.

Andel Bollé, Folk Michel 5/97

LA CHASSE-MARÉE / AR MEN (HG.), Douarnenez 1996. - 512 S.: über 1.000 Abb. in s/w und Farbe, ISBN 2-903708-67-3 - FF 590,-

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